Sinistralität, Antezedenz und alphabetische Priorität

Eines der Bücher, mit dem ich mich Mitte Zwanzig am meisten identifiziert habe, also quasi ein „Existenzbuch“ wie Albert Camus‘ Der Fremde, Antonio Tabucchis Sostiene Pereira oder Ernesto Sabatos El Túnel, war ein Roman, von dem sein Autor John Barth später selbstkritisch gemeint hat, sein Werk habe nicht einmal gewusst, dass es ein Buch sei. (Ja, die späteren Romane von Barth haben einen völlig anderen Stil und sind unzugänglich bis langweilig postmodern.) Das Buch, das ich meine, lag Anfang der neunziger Jahre an einem warmen Frühlingstag mit einem weißen Umschlag und einem Titel in großen roten Lettern in einer Wühlkiste eines Bücherverramschladens am Wiener Rochusmarkt in der späten Nachmittagssonne.

John Bart: Ich bin Jake Horner, glaube ichDer deutsche Titel (Ich bin Jake Horner, glaube ich) klang bescheuert, das billige Coverfoto und der Klappentext versprachen eine reißerische Dreiecksgeschichte, und doch habe ich das Buch gekauft. Vielleicht haben mich die radikale Luzidität einiger zufällig überflogener Sätze und der im  Impressum genannte Originaltitel The End of the Road überzeugt, dass mehr darin stand als der Ullstein-Verlag mir weismachen wollte – oder dass es einfach das Buch war, das meine Seele gerade brauchte, so wie zehn Jahre früher Narziß und Goldmund in mein Leben getreten war. Und mein Gefühl hat mich nicht betrogen. Es ist – mit dem letzteren – eines der wenigen Bücher, die ich mehr als einmal gelesen habe.

Jacob Horner, der Antiheld des Buches auf der Suche nach dem, was seinem Leben Bedeutung geben könnte, gerät unter anderem an einen seltsamen Therapeuten, der ihm folgende Einführung in seinen pragmatischen Ansatz gegen Orientierungslosigkeit und Handlungsunfähigkeit gibt:

„Alle meine Therapien werden eine Zeitlang darauf gerichtet sein, Sie Ihrer Existenz bewußt werden zu lassen. Es ist unwesentlich, ob Sie konstruktiv oder gar konsequent handeln, solange Sie nur handeln. […] Es wäre in Ihrem spezifischen Fall nicht gut, an Gott zu glauben. […] Warum lesen Sie nicht Sartre und werden Existentialist? Das wird Sie auf Trab halten, bis wir was Passenderes für Sie auftreiben. Studieren Sie den Welt-Almanach: das soll für eine Weile Ihr Brevier sein. Wenn Sie außer dem Almanach noch was anderes lesen, dann lesen Sie nur Schauspiele – keine Romane oder Sachbücher. Und vor allem – handeln Sie impulsiv: […] Dies sind die Regeln [räumliche] ›Sinistralität‹, [zeitliche] ›Antezedenz‹ und [abstrakte] ›Alphabetische Priorität‹ – es gibt noch mehr, und sie sind willkürlich, aber nützlich. Bye.“

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