Literarische Schreibratgeber gibt es so viele, dass man gar nicht weiß, welchen man zuerst anpacken soll. Thomas Klupps Arbeit Literarische Schreibratgeber – Eine typologisierend-vergleichende Untersuchung (Peter Lang, 2015), entstanden als Dissertation an der Universität Hildesheim, vergleicht 12 von ihnen nach poetologischen (welches Literaturverständnis haben sie?), poietischen (welche Verfahren, Techniken und Übungen propagieren sie?), methodisch-didaktischen (wie werden die Inhalte aufbereitet und vermittelt?) und historischen (gibt es dafür Grundlagen in Konzepten der Antike?) Kriterien und teilt sie als Ergebnis in drei Gruppen: die ergebnisorientierten, die prozessorientierten und die persönlichkeitsorientierten Schreibratgeber. Wissenschaftlich in der Form und doch flüssig zu lesen, ergibt das Ganze einen guten Überblick und auch eine Orientierung, zu welchem Schreibratgeber man – je nach aktuellen persönlichen Bedürfnissen – greifen sollte. Hier gibt’s eine Leseprobe.
Archiv der Kategorie: Bücher
Hemingways „Der Garten Eden“
Sie (David und Catherine) saufen schon in der Früh Hochprozentiges, sprechen aber nie davon, betrunken zu sein und fahren dauernd mit dem Fahrrad irgendwohin, um zurückzukommen und wieder zu saufen und wieder zu essen und zu schlafen und sich zu lieben. Die Exposition ist oberflächlich-luftig und schwebt voller Andeutungen.
Um diese Welt auf die Probe zu stellen, wird eine zweite Frau eingeführt (Marita) zuerst im gleichen Plänkelton, und die immer noch herrschende Leichtigkeit lässt keine Eifersuchtskonstellation aufkommen. Catherine erscheint stark, so stark, dass sie die Dreierbeziehung, die sie selbst eingefädelt hat, offenbar ohne Selbstwertverlust aushält. Ist das Borderline? Die Grenzen auszuloten? Trotzdem will Catherine ständig Aufmerksamkeit: Magst du mich? Bist du sauer? Die Übersetzung war sicher nicht ganz einfach – ich nehme an, das Original wimmelt von „nice“ und „to like“, das in die richtigen „netts“, „mögen“, „gefallen“ und „lieben“ übertragen werden musste.
Es gibt keine Innenschau der Personen in Hemingways Garten Eden: Von Gefühlen erfährt man selten über Aussagen: wie „Ich scheiß auf …“ Manchmal eine urteilende Bemerkung, die man sowohl als vorsichtig personal als auch als auktorial deuten kann.
Catherines Satz „Entschuldigt, dass ich so spießig war“ steht für den impliziten Konflikt des Romans, das Bemühen, nie in die Tiefe zu gehen, denn die Auseinandersetzung mit bürgerlichen Gefühlen wäre in der Tat etwas, was hier niemanden interessiert. Am spießigsten ist Maritas Aussage zu Beginn, sie trinke nichts, da sie noch fahren müsse. Später ist ihr auch das egal.
Die Ausdrücke „miteinander geschlafen“ und „gefickt“ sind die Türoffner für die Veränderung der Atmosphäre, in der Catherine psychotisch wird – die Anspielung auf einen Aufenthalt in der Schweiz muss allerdings genügen. Auch der Wechsel vom (luftigen) Fahrrad zum (massiven) Auto ist ein Symbol für diese Zäsur.
David bleibt immer glatt wie die Haarschnitte der handelnden Personen: ob er eine Frau hat, ob er zwei Frauen hat, ob eine davon verrückt ist oder nicht, scheint ihn nicht zu berühren. Denn es geht ihm um eine andere Geschichte, eine, die er schreibt, und ausgerechnet auf die ist Catherine eifersüchtig – nicht auf Marita. Und mit dieser – die pflegeleicht ist und sein Schreiben akzeptiert, bleibt David zum Schluss auch zusammen.
Die Jahreszeiten des Luigi Alfredo Ricciardi
So spannend Weihnachten („Per mano mia“) und Sommer („Il posto di ognuno“) waren, den Winter („Il senso del dolore“) habe ich dann nicht mehr derpackt. Maurizio de Giovannis einzelgängerischer Commissario mit den grünen Augen, der die guten Mörder immer laufen lässt, und sein Obelix Maione haben den Stoff („la stoffa“) für ein solides Krimipaar, wie es die Deutschen lieben; das Neapel des italienischen Faschismus, der aber immer dezent im Hintergrund bleibt, kann mit Ystad und Triest mithalten; und doch, als ich den für mich (in unchronologischer Reihenfolge) dritten Band aufblätterte, schlug mir nur Bekanntes entgegen, und ich dachte mir, nein, nicht noch einmal die ganze Exposition ein ganzes Buch hindurch. Denn so ist es: 90% Grundierung, 10% mäßige Dynamik, und doch hat Einaudi gemeint, den „Jahreszeiten“-Zyklus neu auflegen zu müssen, vermutlich, als man begriffen hatte, dass alles so schön zusammenpasst. Zu gut. Leider. So gut, dass schon kaum mehr ein Unterschied zwischen den Romanen bemerkbar ist.
Von Kindern, Spinnen und anderen Raubtieren
Unter dem Buchtitel „Bambini, ragni e altri predatori“ („Kinder, Spinnen und andere Raubtiere“) veröffentlicht der aus Ravenna stammende Autor Eraldo Baldini Kurzgeschichten mit Suspense, die sich nicht einem einzigen Genre zuordnen lassen: Ein großer Fischfang, von dem die Ehre einer ganzen Mannschaft abhängt, entpuppt sich zu guter Letzt als die Suche nach etwas ganz anderem, eine blinde Geigerin wird auf dem Meer vergessen, das Kleine Volk schnappt sich die Ethnologen aus der Stadt. Ein bisschen Krimi, ein bisschen Horror, ein bisschen Roald Dahl … und ein Genuss zu lesen.
Ich bin Gott
Interne Notiz zum Abhaken: „Io sono Dio“ („Ich bin Gott“): Ein hohler Abklatsch-Vietnam-Veteran kehrt aus einem Medien-Abklatsch-Vietnamkrieg mit Medien-Abklatsch-Vietcongs zurück in eine Abklatsch-USA zu seinem letzten wahren Abklatsch-Vietnam-Veteranen-Freund und redet mit ihm über sein abwesendes Abklatsch-Vietnam-Veteranen-Mädel. Irgendwie geht der Roman dann weiter, aber da lag er schon in der Ecke. Der in Asti geborene Autor, Giorgio Faletti, verkauft seine „weltweit übersetzten Bücher millionenfach“. Warum bloß?
Lesezeichen raus, Schutzumschlag drauf
Wenn ich die Lektüre eines Buches abbreche, geschieht dies meist auf Seite zwei oder 20, selten auf Seite 380 von 500. T. Glavinic, Das größere Wunder – von Arbeitskollegin geliehen bekommen – vielversprechend begonnen, indem Bilder und Gefühle beim Lesen sich vom Substrat der Sprache abheben wie hochfrequente elektromagnetische Wellen von ihren Leitern – zur Mitte hin immer plakativer und vorhersehbarer – schließlich angefangen, vorzublättern und über den Text zu scannen – gesehen, dass es in diesem Stil und Inhalt weitergeht – Lesezeichen raus, Schutzumschlag wieder drauf und mit Dank zurück.
Sinistralität, Antezedenz und alphabetische Priorität
Eines der Bücher, mit dem ich mich Mitte Zwanzig am meisten identifiziert habe, also quasi ein „Existenzbuch“ wie Albert Camus‘ Der Fremde, Antonio Tabucchis Sostiene Pereira oder Ernesto Sabatos El Túnel, war ein Roman, von dem sein Autor John Barth später selbstkritisch gemeint hat, sein Werk habe nicht einmal gewusst, dass es ein Buch sei. (Ja, die späteren Romane von Barth haben einen völlig anderen Stil und sind unzugänglich bis langweilig postmodern.) Das Buch, das ich meine, lag Anfang der neunziger Jahre an einem warmen Frühlingstag mit einem weißen Umschlag und einem Titel in großen roten Lettern in einer Wühlkiste eines Bücherverramschladens am Wiener Rochusmarkt in der späten Nachmittagssonne.
Der deutsche Titel (Ich bin Jake Horner, glaube ich) klang bescheuert, das billige Coverfoto und der Klappentext versprachen eine reißerische Dreiecksgeschichte, und doch habe ich das Buch gekauft. Vielleicht haben mich die radikale Luzidität einiger zufällig überflogener Sätze und der im Impressum genannte Originaltitel The End of the Road überzeugt, dass mehr darin stand als der Ullstein-Verlag mir weismachen wollte – oder dass es einfach das Buch war, das meine Seele gerade brauchte, so wie zehn Jahre früher Narziß und Goldmund in mein Leben getreten war. Und mein Gefühl hat mich nicht betrogen. Es ist – mit dem letzteren – eines der wenigen Bücher, die ich mehr als einmal gelesen habe.
Jacob Horner, der Antiheld des Buches auf der Suche nach dem, was seinem Leben Bedeutung geben könnte, gerät unter anderem an einen seltsamen Therapeuten, der ihm folgende Einführung in seinen pragmatischen Ansatz gegen Orientierungslosigkeit und Handlungsunfähigkeit gibt:
„Alle meine Therapien werden eine Zeitlang darauf gerichtet sein, Sie Ihrer Existenz bewußt werden zu lassen. Es ist unwesentlich, ob Sie konstruktiv oder gar konsequent handeln, solange Sie nur handeln. […] Es wäre in Ihrem spezifischen Fall nicht gut, an Gott zu glauben. […] Warum lesen Sie nicht Sartre und werden Existentialist? Das wird Sie auf Trab halten, bis wir was Passenderes für Sie auftreiben. Studieren Sie den Welt-Almanach: das soll für eine Weile Ihr Brevier sein. Wenn Sie außer dem Almanach noch was anderes lesen, dann lesen Sie nur Schauspiele – keine Romane oder Sachbücher. Und vor allem – handeln Sie impulsiv: […] Dies sind die Regeln [räumliche] ›Sinistralität‹, [zeitliche] ›Antezedenz‹ und [abstrakte] ›Alphabetische Priorität‹ – es gibt noch mehr, und sie sind willkürlich, aber nützlich. Bye.“
Erbarmen!
Krimis lassen sich nicht mehr nur in der Tradition skandinavischer Sozialkritik verkaufen, sondern müssen entweder Lokalkolorit transportieren oder immer verstörender werden, um gelesen zu werden. Ich kenne und goutiere beide Subgenres, lese aber, um es mal vorsichtig zu sagen, nicht jeden Scheiß. Da hat es mich natürlich neugierig gemacht, dass Christian Schärf in seinem sonst sehr aufschlussreichen Büchlein Spannend schreiben aus der DUDEN-Reihe Kreatives Schreiben eine Linie von Edgar Allan Poes Die Grube und das Pendel zum Thriller Erbarmen von Jussi Adler-Olsen zieht. Schärf macht’s wahrlich spannend, wenn er vom letzten sagt: „Der Faktor des sadomasochistischen Voyeurismus ist in diesem Text derart hoch, dass man immer wieder in Versuchung gerät, die Lektüre abzubrechen, und im selben Moment doch fast zwanghaft weiterlesen muss.“ Oha! Ich kannte Adler-Olsen – im Unterschied zu zahlreichen anderen nordischen Autoren – nicht und freute mich auf einen spannenden Abend, als mir das genannte Buch in der Bücherei irgendwann unterkam. Mein Abend war dann leider geprägt von der wiederkehrenden Versuchung, die Lektüre aus Langeweile abzubrechen und den Schmarren nicht mehr weiterzulesen. Eine brutale Idee macht noch keine gute Handlung und schon gar keinen guten Erzähler. Auf Amazon haben einige Rezensenten auf negative Kritiken anderer gekontert, ein Thriller müsse nicht „realistisch“ sein. Bezogen aber auf welche „Realität“? Auch Science Fiction muss in sich glaubwürdig sein. Und dieser Roman ist so hanebüchen, dass mit keiner einzigen Figur Identifikation oder Mitgefühl und damit auch keine Spannung aufkommt. Erbarmt habe ich mich schließlich meiner selbst, als ich das Buch endgültig auf die Seite gelegt habe. Ich sollte meinen literarischen Instinkten trauen und wie bisher einen großen Bogen um „Bestseller“ machen.